Hartes Ringen. Der Umbruch in der Ukraine hält die Öffentlichkeit seit Monaten in Atem. Für univie beleuchten Osteuropa-Forscher der Universität Wien Prozesse der Transformation. Was bedeuten diese für die Demokratisierung? Eine Analyse aus unterschiedlichen Disziplinen. (Foto: Radiokafka / Shutterstock.com)
Leseprope aus dem Schwerpunkt:
Ein Stück Transformationsgeschichte
Text: Siegrun Herzog
"Die Geschichte ist nach hinten immer offen“, sagt der Zeithistoriker Philipp Ther. Man könne schließlich erst im Nachhinein beurteilen, wann eine Entwicklung abgeschlossen, eine Periode ausgelaufen sei. Nicht weit zurückblicken muss Ther bei seinem aktuellen Forschungsgebiet der Transformationsgeschichte Mittel- und Osteuropas. Was im November des Vorjahres am Unabhängigkeitsplatz im Zentrum Kiews ins Rollen kam, wird zweifellos in die Geschichtsbücher eingehen und HistorikerInnen noch länger beschäftigen: Es ist ein weiterer Meilenstein im ukrainischen Transformationsprozess. Ein Prozess, der mit dem Zerfall der Sowjetunion und der Unabhängigkeit der Ukraine als eigenständiger Staat 1991 seinen Ausgang nahm, wenn man allein die neuere Geschichte betrachtet.
Wandel, radikal und tiefgreifend. „Von Transformation sprechen wir, wenn sich grundsätzliche Koordinaten der gesellschaftlichen, der wirtschaftlichen und der politischen Entwicklung verändern“, sagt Dieter Segert, der als Sozialwissenschafter an der Universität Wien über Transformationsprozesse in Mittel- und Osteuropa forscht. Ihn fasziniert, wie schnell und radikal der Wandel dort in den vergangenen zehn Jahren vor sich gegangen ist. „Die 1990er-Jahre sind das Jahrzehnt der großen Transformationen. Es kam zu radikalen Veränderungen nicht demokratischer oder autoritärer politischer Systeme hin zur Demokratie“, so Segert. Auch die Wirtschaftssysteme veränderten sich, von einer regulierten, regional begrenzten Wirtschaft hin zu einer weltoffenen Marktwirtschaft.
Derartige radikale und tiefgreifende Veränderungen treten meist nach historischen Zäsuren auf, wie dies nach 1989, dem Fall des Eisernen Vorhangs, der Fall war. Phasen der Transformation gab es aber auch schon früher in der Geschichte, etwa nach dem Ersten Weltkrieg, als die Imperien zerfielen und Europa neu geordnet wurde. So seien die Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie nach 1918 genauso einem tiefgreifenden Wandel unterlegen wie die postsozialistischen Staaten nach 1989, meint Ther.
Sie war in Kiew, als im Februar 2014 die Krim-Krise ausbrach. Die Journalistin und Alumna der Politikwissenschaft Jutta Sommerbauer schildert Momentaufnahmen im Ukraine-Drama aus Sicht der Reporterin.
Juristisches Neuland. Transformations- und Demokratisierungsprozesse sind immer auch eine juristische Herausforderung, weiß Stephan Wittich vom Institut für Europarecht, Internationales Recht und Rechtsvergleichung an der Uni Wien. Ein funktionierender Rechtsstaat als Voraussetzung für eine stabile innerstaatliche Ordnung und Sicherheit müsse in Transformationsländern wie der Ukraine völlig neu aufgebaut werden. „Es stellt sich zunächst die Frage, woher man die Legitimität nimmt, eine neue Verfassung zu schaffen. Aus europäischer Sicht sollte das so demokratisch wie möglich geschehen“, so der Rechtswissenschafter. Und aus völkerrechtlicher Sicht ergeben sich bestimmte Verpflichtungen, die der neue oder transformierte Staat innerhalb der Völkerrechtsgemeinschaft einhalten muss. Dazu kommt, dass ein effektives Rechts- und Justizsystem aufgebaut werden muss, das betrifft das Strafrecht, aber auch das Zivilrecht, wo Fragen über Grundeigentum geklärt werden.
„Gerade in Transformationsprozessen stellt sich oft die Frage ,wem gehört was?‘ “, so Wittich. Und dann gebe es da noch die menschenrechtliche Seite, wo es nicht nur wichtig sei, den Menschen individuellen Rechtsschutz zu gewährleisten, sondern auch Minderheiten zu ihren Rechten zu verhelfen, so der Jurist.
Zuletzt: Politische Partizipation habe einen Einfluss auf die Identität der BürgerInnen mit dem Staat, auch wenn es wirtschaftlich zunächst oft zu Einbußen komme, sagt Wittich. „Mittel- oder langfristig gesehen führt Demokratisierung zu einer wirtschaftlichen Konsolidierung, die sich auch in den Lebensbereichen der Menschen spüren lässt“, meint der Rechtswissenschafter.
Steiniger Weg. Dass Transformationsprozesse nicht unbedingt geradlinig verlaufen, wird klar, wenn man sich die Entwicklung der Ukraine ansieht, die schon ein paar Anläufe hin zu mehr Demokratie genommen hat: Es gibt Rückschläge und Kurvenbewegungen, Transformation ist ein Auf und Ab. Einer der wichtigsten Anläufe war die Orange Revolution, die mit dem Protest gegen Wahlfälschung in der Präsidentschaftswahl im Herbst 2004 begonnen hat. „Damals sah man im Westen schon die Demokratie in der Ukraine auf dem Vormarsch“, sagt Segert. Doch schon bald zeigte sich, dass dieser Schluss voreilig gezogen wurde, dass die Orange Revolution gescheitert war. Gescheitert ist sie zum einen an den führenden Akteuren der politischen Reform selbst, dem damaligen Präsidenten Wiktor Juschtschenko und seiner damaligen Ministerpräsidentin Julija Timoschenko. „Innerhalb eines Jahres waren sie so zerstritten, dass nichts mehr ging. Das ist in einer Situation, in der es ohnehin ein labiles Kräfteverhältnis gibt, fatal“, so der Politologe. Auch das soziale Ungleichgewicht konnte im Zuge der Orangen Revolution nicht verändert werden: Eine kleine Gruppe der Bevölkerung, die Oligarchen, wurde zu den großen Gewinnern der wirtschaftlichen Transformation. Dazu kam die Korruption, die in der Ukraine besonders stark ausgeprägt ist.
Für den Sozialwissenschafter, den Strukturen und längerfristige Prozesse interessieren, kamen die aktuellen Entwicklungen in der Ukraine nicht gänzlich überraschend. Auch wenn sich die Proteste zu Beginn gegen die Regierung Janukowytsch gerichtet haben, spielte auch die Unzufriedenheit mit der sozialen und wirtschaftlichen Situation eine Rolle. „Der Ausgangspunkt des Konflikts ist jedenfalls etwas, das die Ukraine seit 25 Jahren geprägt hat, nämlich die Frage: Wohin eigentlich? Zum Westen, Richtung Europa oder doch Richtung Russland, dem großen östlichen Nachbarn?“, sagt Segert. In der Krise zeige sich, wie wenig stabil der Staat sei und wie unterschiedlich die Vorstellungen der Bevölkerungsteile darüber, was dieser Staat eigentlich sein soll, was ihn ausmache. Denn was die Menschen unter der Zugehörigkeit zur ukrainischen Nation verstehen, ist im Westen und im Osten des Landes sehr unterschiedlich. Man findet unterschiedliche Identitäten, unterschiedliche Erinnerungskulturen, unterschiedliche Geschichtserzählungen, unterschiedliche Sprachen, so der Politologe.
Identitäten, regional bis national. Die Ukraine ist seit Jahrhunderten von starken regionalen Unterschieden geprägt. In der Kulturgeschichte des Landes finden sich russische oder polnische genauso wie jüdische Einflüsse. Auch wenn der aktuelle Konflikt das Land im Großen und Ganzen in Ost und West spaltet – die Hauptstadt Kiew zählt dabei eher zum „Westen“, obwohl das geografisch gesehen eigentlich nicht korrekt ist – lohnt es sich, die Regionen unter die Lupe zu nehmen. In ihrem gemeinsamen Forschungsprojekt „Ukraine – Region, Nation and beyond“ sind der Slawist Woldan und der Historiker Ther der Regionalität auf der Spur.
„Geschichte ist sicherlich etwas, wo die Regionalität sehr stark zu Buche schlägt, gerade in Randgebieten wie auf der Krim findet man gute Beispiele dafür. Und auch die Literatur kann man natürlich regional betrachten und sich anschauen, wann wo in welcher Sprache publiziert wurde“, so Alois Woldan, der den österreichischen Part der österreichisch-deutsch-schweizerischen Kooperation leitet.
Sprache ist Ausdruck kultureller Identität und damit ein wichtiger Indikator in Transformationsprozessen. In der Sowjetunion wurde das Ukrainische schrittweise zurückgedrängt, während Russisch immer mehr zur Lingua franca wurde, nach dem Motto „ein Sowjetvolk braucht eine gemeinsame Sprache“. Dann kam die Kehrtwende. „In einer Zeit, in der die offizielle Sprachpolitik das Russische immer mehr forcierte, wurde das Ukrainische zum Erkennungszeichen derer, die nicht mit der gesamten sowjetischen Politik einverstanden waren“, sagt Woldan, Professor für Slawische Literatur an der Uni Wien.
Mit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 wurde das Ukrainische massiv aufgewertet. Seither ist nicht nur die Zahl der ukrainischen Zeitungen und Verlage gestiegen, auch Übersetzungen aus der westeuropäischen Literatur ins Ukrainische wurden gefördert. Ein Zeichen für eine erstarkende nationale Identität? „Das wirkt in beide Richtungen“, meint Woldan. Ein erstarktes Nationalbewusstsein ließ die ukrainische Buch- und Presselandschaft aufblühen. Und umgekehrt: Ein interessantes literarisches Angebot wirkt wiederum auf die LeserInnen zurück.
Die Transformation hinterlässt auch in der Literatur ihre Spuren, wo historische Zäsuren wie die Orange Revolution verarbeitet werden. „Intellektuelle sind und waren bei Revolutionen immer ganz vorne dabei. Die zeitgenössische Literatur reagiert daher sehr rasch“, so der Slawist. Bald nach 2004 erschienen Textbände, die während der Orangen Revolution entstanden sind. Und aktuell haben die Menschen nach den brutalen Gewalterfahrungen in Kiew auch mittels der Dichtung darüber reflektiert, zweifellos werden sich diese Eindrücke schon bald in der Literatur wiederfinden, ist Woldan überzeugt.
Revolution 2.0. Ihren Niederschlag fand die aktuelle Revolution von der ersten Stunde an im Internet. Ähnlich wie beim Arabischen Frühling kommt im Ukraine-Konflikt den sozialen Netzwerken eine bedeutende Rolle zu. „Die sozialen Medien verändern natürlich die politische Organisationsfähigkeit, man kann schneller agieren“, meint Segert. Und die vielen Bilder und Videos direkt von den Schauplätzen, vielfach mit Handys gefilmt, beeinflussen auch die internationale Wahrnehmung des Konflikts. Symbole, wie etwa die Fahnen der Nationalisten oder russische Fahnen, spielten durch diese Bilder, die um die Welt gingen, eine große Rolle, so Segert.
In gewisser Weise arbeiten sie alle, ob JournalistInnen oder AktivistInnen, auch für die Geschichtsforschung. Die Fülle an Bildmaterial und Tonträgern sieht Ther in erster Linie als eine Herausforderung für die historische Betrachtung in der Zukunft. Wie wird man sich in zehn, 20 oder 30 Jahren an die Revolution auf dem Maidan erinnern? „Es ist zu hoffen, dass es eine Art ‚Maidan-Archiv‘ geben wird, ein revolutionäres Archiv, das diese Fülle an Material aufbewahrt“, so der Historiker. Denn nur dann wird dieses Stück Transformationsgeschichte irgendwann fertig geschrieben werden können. •