Kontinentaldrift. An Krisen und Konflikten mangelt es der Europäischen Union derzeit nicht. Vom großen Ganzen zoomt univie auf drei Hotspots, die Europa aktuell bewegen: den Brexit, die Flüchtlingsfrage und Kataloniens Unabhängigkeitsbewegung. Alumni und WissenschafterInnen greifen diese Brennpunkte auf und verraten ihre persönlichen Visionen und Ideen für Europa.
Leseprobe aus dem Schwerpunkt:
Sind wir noch zusammen?
Text: Siegrun Herzog
An den 23. Juni 2016 kann Rowan Milligan sich noch genau erinnern. Der Tag, an dem die BritInnen über Austritt oder Verbleib ihres Landes in der Europäischen Union abstimmen sollten. Es war fünf Uhr früh am Tag danach, als die 25-Jährige aus dem Schlaf hochschreckte und vom Ergebnis erfuhr. „That was incredible“, erzählt die Britin, die inzwischen in Wien lebt. Die damalige Studentin war zur Abstimmung nach Hause gefahren in das kleine Fischerdorf Penzance an der Küste Cornwalls. Und war geschockt. Während in London, wo Milligan zu dieser Zeit lebte, alle Zeichen auf „Remain“ standen, sah sie in ihrem Heimatort die Menschen mit „Leave“-Bannern am Hafen demonstrieren und begann sich erstmals richtig Sorgen zu machen. Als die Studentin eine Woche nach dem Referendum das Okay für ihr Erasmus-Stipendium erhielt, folgte der zweite Schockmoment: Bin ich überhaupt noch berechtigt, wenn Großbritannien aus der EU austritt? „It was the first time I had this feeling of oh, Brexit affects my life.“ Milligan konnte ihr Stipendium für den Urban-Studies-Masterlehrgang „4 Cities“, der sie neben Brüssel, Madrid und Kopenhagen auch an die Universität Wien führte, antreten. Doch das Gefühl, eventuell nicht mehr als Erasmus-Stipendiatin zugelassen zu sein, war einfach bizarr, sagt sie rückblickend.
„It was the first time I had this feeling of oh, Brexit
affects my life.“
Rowan Milligan, MA, Alumna of the Euromaster in Urban Studies
(4 Cities), Universities of Vienna, Brussels, Copenhagen and Madrid
Historisches Ereignis. Der bevorstehende Austritt Großbritanniens aus der EU ist zweifellos eine jener Begebenheiten aus der Gegenwart, die das Zeug haben, als markantes historisches Ereignis in die Geschichte Europas einzugehen. Das meint auch Wolfgang Schmale. Der Historiker nennt als Charakteristika, die so ein historisch bedeutsames Ereignis erfüllen muss, drei Bedingungen: Erstens, das Problem ist nicht ganz neu. Zweitens, die Situation spitzt sich zu und erfordert eine Lösung.
Drittens, die Lösung hat weitreichende Folgen.
Brexit-AktivistInnen demonstrieren vor dem Parlament in London. Das Referendum im Juni 2016 ging denkbar
knapp aus: 51,9 Prozent der WählerInnen stimmten für den Austritt, 48,1 Prozent dagegen.
Für ihn kam das Ergebnis nicht ganz überraschend, schließlich sei Großbritannien in der Zustimmung bzw. Ablehnung zur EU immer hin und her geschwankt. „England ist mit Europa, aber nicht in Europa“, zitiert der Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität Wien Winston Churchill. Und diese Haltung habe sich über die Zeit recht stabil gehalten. Die wirtschaftlichen Verflechtungen sind allerdings vorangeschritten, diese jetzt auseinanderzureißen könnte dramatische Folgen haben, meint Schmale und befürchtet sogar, dass wir den Niedergang des Vereinigten Königreichs erleben müssten, in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht. „Schottland wird die Frage nach der Unabhängigkeit sicherlich noch einmal ernsthaft aufwerfen, aber auch Nordirland und Wales, die ja in der EU bleiben wollen, könnten das tun. Im schlimmsten Fall zerfällt das Königreich, dann ist es kein vereinigtes mehr“, so Schmale.
„England ist mit Europa, aber nicht in Europa, sagte schon Winston Churchill.“
Univ.-Prof. Wolfgang Schmale, Historiker, Universität Wien
Kommunikationsproblem. Im Vorfeld des Brexit-Referendums hätte eine für gewöhnlich kritische Instanz jedenfalls klar ihren Auftrag als Advokat der BürgerInnen verfehlt: die Medien, ist Katharine Sarikakis überzeugt. „Die mediale Berichterstattung war geprägt von Demagogie und Lügen“, kritisiert die Kommunikationswissenschafterin der Universität Wien, die selbst neben ihrer griechischen auch die britische Staatsbürgerschaft besitzt. Sarikakis, die seit zwei Jahren den Jean Monnet Chair of European Media Governance and Integration innehat, befasst sich unter anderem mit der Rolle der Medien für die europäische Integration. Sie ortet eine Phase der Desintegration in Europa. Die gemeinsame kulturelle Philosophie, die gemeinsamen Wertvorstellungen beginnen zu bröckeln. „Wir erleben Zeiten, wo aggressiver Nationalismus gegen das europäische Sein herrscht.“ Und ja, auch die Medien hätten dabei versagt, den Menschen vor allem eines klar zu machen: „Europa ist euer Zuhause“, so Sarikakis.
„Wir erleben Zeiten, wo aggressiver Nationalismus
gegen das europäische Sein herrscht.“
Univ.-Prof. Katharine Sarikakis, Kommunikationswissenschafterin, Universität Wien
Gespaltene Gesellschaft. Ob Großbritannien, Polen, Ungarn, Italien, Frankreich oder Deutschland, nationalistische Strömungen und Bewegungen flackern derzeit in vielen Ländern und Regionen Europas auf und spalten die Gesellschaft. Denn gleichzeitig formiert sich auch der Widerstand. Große Teile der Zivilgesellschaft stehen auf und beziehen eine Gegenposition.
„Man muss unterscheiden, ob es sich wirklich um fundamentale Veränderungsprozesse handelt, die diese Länder gerade durchmachen, ob sie sich tatsächlich von der Wertegemeinschaft Europas abwenden oder ob es sich um parteipolitische, letztlich vorübergehende Strömungen handelt“, gibt Wolfgang Schmale zu bedenken. In seinem aktuellen Buch „Was wird aus der Europäischen Union?“ zeigt er die Wurzeln aktueller Konflikte auf und skizziert Ideen, wie es weitergehen könnte. Der Historiker schlägt etwa vor, bei derart weitreichenden Entscheidungen wie dem Austritt eines Mitgliedslandes alle EU-BürgerInnen mitstimmen zu lassen, in einem EU-weiten Referendum: „Wenn ein Land austritt, hat das ja Konsequenzen für uns alle. Darum sollen auch alle ja oder nein dazu sagen dürfen.“
>>Tipp: Lesen Sie dazu auch die persönlichen Schilderungen zur katalanischen Unabhängigkeitsbewegung "Gefangen in der Blase" von Oliver Hochadel sowie zum bevorstehenden Brexit "Das Ende einer Vernunftehe" von Cornelia Primosch.
Wohin geht die Reise? Sarikakis sieht derzeit zwei Richtungen und fragt sich: „Ist Europa eine Agora oder ist es vielmehr ein Battlefield?“ Eine Agora, so wurde der zentrale Versammlungsplatz im antiken Griechenland genannt, bedeute nicht, dass wir ausschließlich harmonisch leben und harmonisch Entscheidungen treffen müssen, es sei vielmehr ein Ort, wo miteinander diskutiert und verhandelt wird, wo gemeinsam Kompromisse gefunden werden zum Wohl der Gesellschaft, so die gebürtige Griechin. In den europäischen Gesellschaften macht die Sozialwissenschafterin derzeit beide Tendenzen aus und erinnert an die erste Welle der großen Fluchtbewegungen nach Europa im Jahr 2015. „Menschen kamen spontan zusammen, um zu helfen, und auch die Medien verhielten sich anfangs neutral bis unterstützend. Ein Gefühl der Solidarität und der Einigkeit über bestimmte Werte war spürbar.“ Doch wir kennen auch die andere Seite.
Neuankömmlinge im Flüchtlingscamp Diavata, nahe Thessaloniki in Griechenland. Sie kamen über den Fluss Evros
aus der Türkei und warten, wie es weitergeht.
Die Öffnung der Grenzen im Jahr 2015, um die hauptsächlich aus Syrien geflüchteten Menschen weiterziehen zu lassen, war ebenso ein Ereignis von historischer Tragweite für Europa. Die Flüchtlings- und Migrationsfrage bestimmt seither sehr stark den politischen Diskurs – und polarisiert, in Österreich wie in der gesamten EU. „Wir sehen einerseits diejenigen, die mit den Bildern von den großen Fluchtbewegungen 2015/16 im Kopf eine Angsthaltung einnehmen, und gleichzeitig andere, die sich engagieren, selbst anpacken oder ihre Geldbeutel öffnen“, berichtet Ruth Schöffl. Die Alumna der Uni Wien ist als Pressesprecherin für UNHCR in Österreich tätig und beobachtet den aktuellen Migrationsdiskurs mit großer Sorge. Vom Krisengerede hält sie nicht viel. Vielmehr sieht sie Europa derzeit in einer recht komfortablen Situation, was die Fluchtbewegungen anbelangt, auch wenn es oft anders dargestellt werde. „Wenn man die globalen Zahlen betrachtet, kann von einer Flüchtlingskrise in Europa keine Rede sein. Im Jahr 2018 sind bisher rund 100.000 Menschen in Europa angekommen. Von fast 70 Millionen, die sich derzeit weltweit auf der Flucht befinden, ist das ein sehr geringer Anteil.“ Die Thematik werde derzeit eher zu einer Krise stilisiert, so Schöffl.
„Wenn Europa solidarischer und gemeinschaftlicher handeln würde, könnte viel mehr Hilfe in Gang kommen.“
Mag. Ruth Schöffl, Alumna der Publizistik und Kommunikationswissenschaft sowie Romanistik, UNHCR Österreich
Die mangelnde Einigkeit der EU-Länder in der Flüchtlingsfrage bekommen Hilfsorganisationen wie das weltweit agierende UNHCR in der Arbeit vor Ort zu spüren. Die Herkunftsregionen der Geflüchteten reagierten mit Unverständnis gegenüber einem Europa, das derart uneins agiere. Außerdem sei die starke Unterfinanzierung der Hilfsorganisationen problematisch. „Wenn Europa solidarischer und gemeinschaftlicher handeln würde, könnte viel mehr Hilfe in Gang kommen, dann wäre die Grundversorgung vor Ort nicht so ein ständiges Dauerthema und man hätte mehr Ressourcen, um mit den Herkunftsländern zusammenzuarbeiten“, so Schöffl.
Blickt man auf die aktuellen Brennpunkte, gewinnt man leicht den Eindruck, dass von Einigkeit jede Spur fehle. Man dürfe aber eines nicht vergessen: Bei den großen Themen der EU, in der Wirtschafts- und Außenpolitik etwa oder in Erweiterungsfragen, herrschte nach wie vor viel Einigkeit, betont Wolfgang Schmale. Auch laut Eurobarometer-Umfrage finden 60 Prozent der befragten EU-BürgerInnen, die EU sei eine gute Sache. Das Ziel des wirtschaftlichen Wohlstands, der auch einigermaßen gleichmäßig bei den Mitgliedsländern verteilt sein soll, ist sehr wohl eines, das nach wie vor gilt, und wohl auch das stärkste Argument, warum die meisten Länder sicher nicht ernsthaft überlegen, aus der EU auszutreten.
„Was eint Europa?“, fragt die Universität Wien auch ihre WissenschafterInnen und Studierenden in der aktuellen Semesterfrage – eine Frage, die in Hinblick auf die kommenden EU-Parlamentswahlen im Mai 2019, auch außerhalb der Uni Wien, zu beantworten sein wird. •
Meine Vision für Europa: Die im Text genannten AbsolventInnen und WissenschafterInnen verraten ihre persönlichen Ideen und Visionen für Europa.