Lebendige Geschichte. 650 Jahre Universität heißt auch 650 Jahre ununterbrochene Wissensproduktion. Wie wurde Wissen generiert, wie vermittelt? Und was von dem, was die Universität heute kennzeichnet, findet sich bereits in ihren Anfängen? (Kunst-)Historikerinnen begeben sich auf Spurensuche und setzen dabei immer mehr auf neue Medien, um Geschichte(n) lebendig zu machen. (Foto: Suchart Wannaset)
Leseprobe aus dem Schwerpunkt:
Wissen schaffen
seit 1365
Text: Siegrun Herzog
Wer dieser Tage durch die Wiener Innenstadt flaniert, hat gute Chancen, über die „golden hashtags“ zu stolpern. Die Bodenmarkierungen in Gold verleiten zu einer Art universitärer Schnitzeljagd und markieren Orte, an denen Universität war und ist. In der Gegend um das Stubentor, die Bäckerstraße und die Jesuitenkirche dürfte die Trefferquote am höchsten sein, hier lag das geballte mittelalterliche Universitätszentrum. Über 100 Uni-Orte aus dem Mittelalter bis heute wurden mit dem Twitter-Zeichen #wien1365 markiert. Auf den Medien Twitter und Instagram findet man kurze Infos und historische Bilder zu den markierten Orten. Initiiert hat die Aktion eine Gruppe von Kunstgeschichte-Studentinnen um Heidrun Rosenberg, Kunsthistorikerin und Kuratorin der aktuellen Ausstellung „Wien 1365 – eine Universität entsteht“. „Soziale Medien einzubeziehen und so den Stadtraum mit dem virtuellen Raum zu verbinden, finde ich eine gelungene Idee“, freut sich Rosenberg über die Initiative der „digital natives“, die in ihrer Lehrveranstaltung entstand. „Wir wollen die universitären Orte im Stadtraum sichtbar machen und gleichzeitig den Überraschungseffekt nutzen, um Aufmerksamkeit für die Ausstellung der Universität Wien in der Nationalbibliothek zu erregen“, erzählt Lisa Sonnberger aus der Projektgruppe.
Golden Hashtag. Die drei Kunstgeschichte-Studentinnen Lisa Charlotte Sonnberger, Florentine Muhry und Martina Schöggl (v.l.n.r.), sprayen "#wien 1365" an jene Orte, an denen die Uni Wien war und ist. Hier: vor dem Archiv der Uni Wien in der Postgasse.
Ideen wandern. Überraschen möchte Rosenberg auch die BesucherInnen der von ihr kuratierten Ausstellung mit neuen, bisher vielleicht noch nie wahrgenommenen Aspekten der Uni-Geschichte. „Dass die Gesellschaft der Gelehrten im Mittelalter von einer großen Internationalität geprägt war, dass Strömungen aus Frankreich, England, Italien und vor allem aus der Universitätsstadt Prag kamen, ist sicher für viele neu. Die europäischen Universitäten sind unter den ersten internationalen Institutionen überhaupt.“ So kamen auf Einladung Rudolfs IV., dem Gründer der Universität Wien, Gelehrte aus europäischen Universitätsstädten wie Paris oder Oxford, um am Aufbau der neuen Universität mitzuwirken.
Gelehrten sah es als Gewinn, dass jemand aus der Fremde etwas Neues mitbrachte. Über Wissenschaftsnetzwerke verbreitete sich etwa die Nachricht von der Entdeckung Amerikas in Wien im Eiltempo. Universitätsgelehrte waren selbst viel unterwegs, haben an verschiedenen Orten gelehrt und zwischendurch auch einmal etwas anderes gemacht. „Es gab viel mehr dieses ‚on‘ und ‚off‘ und einen Austausch mit der Welt“, so Rosenberg. Zum Diskutieren trafen sich die Gelehrten nicht nur an Versammlungsorten der Universität, sondern häufig auch in Privathäusern. Aber bereits in der frühen Neuzeit wurden Forschungsergebnisse auch international diskutiert. Europaweit bezeugen mehrere Hunderttausend Briefe – von der frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert – diese rege Gelehrtenkorrespondenz. In den folgenden Jahrhunderten war die Internationalität weniger ausgeprägt und erreichte erst im 20. Jahrhundert eine neue Dimension, vor allem im Zuge der europäischen Integration und dem Aufkommen der Mobilitätsprogramme für Studierende und Uni-Angehörige. So gehört es für viele Studierende heute einfach dazu, einige Zeit im Ausland zu verbringen, auch um mit ihren internationalen Erfahrungen in der Arbeitswelt zu punkten. Aus der Tradition und dem Selbstverständnis der Universität Wien ergibt sich der Anspruch, eine international sichtbare und attraktive Universität zu sein, die im internationalen Wettbewerb um MitarbeiterInnen, Studierende und Forschungsgelder bestehen kann. Dabei ist Internationalisierung kein Selbstzweck, sondern ein Instrument der Qualitätssicherung und -steigerung von Forschung und Lehre.
Wien war im Spätmittelalter besonders für die Astronomie überregional bekannt. Georg von Peuerbach und sein Schüler Regiomontanus lieferten mit ihren Beobachtungen der Kometen- und Planetenbewegungen die Grundlage für eine naturwissenschaftliche Revolution: das heliozentrische Weltbild, gemäß dem sich die Erde um die eigene Achse dreht und sich wie die anderen Planeten um die Sonne bewegt. Wissen bewusst für die Gesellschaft und deren Fortschritt einzusetzen, ist aber ein Phänomen des 18. Jahrhunderts. Ab dieser Zeit entwickelt sich auch die Person des Universitätslehrers hin zu einer Persönlichkeit, die auch über eigene Forschungen berichtet, zuvor durfte nur aus fremden, streng festgelegten Büchern vorgelesen werden.
Die Gründungsurkunde der Uni Wien von 1365. Im Herbst 2014 wurde derherzögliche Stiftsbrief als „Memory of Austria“ in das
UNESCO-Weltkulturerbe aufgenommen. Das 87 x 135 cm große Dokument ist schon allein der Größe und Ausführung wegen eindrucksvoll –
„ein frühes Plakat“ nennt es die Kunsthistorikerin Heidrun Rosenberg.
Aber nicht nur die Gelehrten und ihre Ideen wanderten, auch die Studenten kamen teils von weit her, um in Wien ihre Studien aufzunehmen. Aus Matrikelbüchern ist bekannt, dass der überwiegende Teil der Studenten im Spätmittelalter aus dem heutigen Bayern, Franken und Schwaben nach Wien kam, auch aus den habsburgischen Ländern, vereinzelt sogar von weiter her, aus Schottland oder Skandinavien.
Uni-fiction. Einer von ihnen ist Johann, Artistenstudent aus Halberstadt. Als Johann im Februar 1388 zum Studium nach Wien kommt, lassen ihn die Wachen am Zugangstor warten. Sie schimpfen über die vielen Scholaren, die neuerdings die Stadt überrennen. Von überallher reisen Lernbegierige in die junge Universitätsstadt. Johann wohnt in der Burse, einer mittelalterlichen Studentenunterkunft. Johann ist eine fiktive Person, doch was der junge Student im spätmittelalterlichen Wien erlebt – das streng reglementierte Studentenleben, das Repetieren lateinischer Texte, die Auseinandersetzungen mit den Bürgern –, sind historisch belegte Fakten. Hinter Johann steht Marianne Klemun und die Fakultätsgruppe Öffentlichkeitsarbeit der Historisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät an der Uni Wien. Die Wissenschaftshistorikerin, die gemeinsam mit Fritz Blakolmer, Martina Fuchs und Hubert Szemeth die Gruppe koordiniert, wollte zum Jubiläum „etwas andere Geschichten“ über die Universität erzählen. Spontan sei die Idee entstanden, einen Blog zu schreiben und mittels kurzer Geschichten 650 Jahre Universitätsgeschichte häppchenweise zu servieren, uni-fiction eben.
„Durch die Fiktion können wir spielerisch mit der Geschichte umgehen, aber alles, was wir erzählen, ist historisch belegt. Die Figur ist der Kristallisationspunkt, wo alles zusammenläuft“, so Klemun. In 13 Beiträgen lassen die AutorInnen fiktive Studierende aus sieben Jahrhunderten Universitätsgeschichte erzählen. Mit den 13 Blog-Beiträgen haben sich die AutorInnen ein Jahr lang schrittweise an das Jubiläum angenähert. „Ich fand es schön, mit dem Format des Blogs abzubilden, dass ein Jubiläum nicht an einem einzigen Tag stattfindet, wir beschäftigen uns seit einem Jahr intensiv damit“, so Klemun. Pünktlich zum Dies Academicus am 12. März, dem offiziellen Startschuss zu den Jubiläumsfeierlichkeiten, erscheint der letzte Blog-Beitrag auf uni-fiction, gestaltet als Interview mit zwei „realen“ Studentinnen von heute.
Der Blog Uni-fiction erzählt "etwas andere" Geschichten über das Studieren an der Uni Wien aus sechs Jahrhunderten.
Von Repetieren bis Multitasking. Ein zentrales Thema, das sich durch sämtliche Blog-Beiträge zieht: Wie haben Studierende der verschiedenen Epochen gelernt? Wie haben sie sich Wissen angeeignet? Welche Praktiken nutzten sie? „Wir erleben hier einen enormen Wandel. Johann im ersten Beitrag lernt durch Repetieren lateinischer Texte, im Mittelalter war die orale Kultur vorherrschend. Gleichzeitig beobachten wir den Wechsel hin zur Handschrift, Texte wurden abgeschrieben und neu zusammengestellt. In der Mitte des 19. Jahrhunderts sind Seminare und im 20. Jahrhundert auch die Arbeit im Labor dazugekommen, man hat sich den Stoff schreibend bzw. forschungsgeleitet erarbeitet.“ Und heute? „Man sieht immer mehr Notebooks im Hörsaal, wobei natürlich nicht nur mitgeschrieben wird, sondern auch ganz viele andere Dinge nebenbei erledigt werden, das Multitasking im Hörsaal nimmt zu“, so Klemun. Wie die Wissensvermittlung stattfindet, hat sich immer wieder verändert und wird sich in Zeiten der fortschreitenden Informationstechnologie wieder verändern. Durch die Generation der „Digital Natives“ ergeben sich gerade aktuell wieder Veränderungen in Studium und Lehre.
Die Universität war nie der einzige Ort, an dem Wissenschaft betrieben wurde – man denke etwa an die Klöster, die Kirchenschulen oder Observatorien –, aber sie war immer ein Ort, an dem Wissensgenerierung, Wissensvermittlung und Wissensaneignung als wesentliche Grundpfeiler vorhanden waren. „Dass unterschiedliche Wissensräume wie Bibliotheken, Sammlungen, Experimentierräume, der Botanische Garten oder die Sternwarte so konzentriert an der Einrichtung vorhanden sind, ist ein wesentliches Charakteristikum der Universität“, so Klemun. Wichtig war den Blog-InitiatorInnen daher auch, diese verschiedenen Orte in den Geschichten zu präsentieren. In den vergangenen Jahren verlagerte sich auch die Wissenssammlung und -bearbeitung viel stärker ins Netz: E-Books, E-Journals und High Performance Computing sind die Schlagworte der heutigen Zeit.
(K)ein Privatvergnügen. Ein Universitätsstudium war im Mittelalter in erster Linie ein Privatvergnügen, es hatte den Charakter der privaten Gelehrtheit. Das Artistenstudium verhalf zu einer Art Grundausbildung in den Fächern Grammatik, Rhetorik und Dialektik bzw. Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik, nach der man an der Theologischen, Medizinischen oder Juridischen Fakultät weiterstudieren konnte. Und dann? Welche Berufsperspektiven standen Absolventen der frühen Universität offen? „Die Klöster hatten sehr hohes Interesse an ihnen, viele sind auch im Rat der Stadt untergekommen, haben sozusagen eine Beamtenlaufbahn eingeschlagen, sind Ärzte geworden oder waren bei Hof beschäftigt“, erzählt Rosenberg von gängigen Karrieremustern im Spätmittelalter.
Die Aufgabe, Fachleute auszubilden, also den Absolventen eine Berufsausbildung mitzugeben, verfolgten die Universitäten besonders gezielt unter Maria Theresia und ihrem Sohn Joseph II. „Hier ist eine große Trendwende in Richtung Berufsausbildung passiert“, sagt Katharina Kniefacz, Mitarbeiterin am Forum Zeitgeschichte der Universität Wien. Als Zeithistorikerin beschäftigt sie sich schwerpunktmäßig mit dem sogenannten „langen 20. Jahrhundert“, der Zeit ab 1848 bis heute, wo wesentliche Änderungen in der Universitätsverfassung, aber auch in der Ausrichtung der Universitäten passiert sind und wo sich die moderne heute kennen. In dieser Zeit differenzierten sich auch die Disziplinen aus. Die Philosophische Fakultät konnte sich ab 1848 neu formieren, weil vieles, was dort zuvor vermittelt wurde, an die neu gegründeten Gymnasien ausgelagert wurde, die als Voraussetzung für ein Uni-Studium besucht werden mussten. Von dort heraus haben sich fast alle Fächer, Geisteswissenschaften, Naturwissenschaften und zum Teil auch die Sozialwissenschaften entwickelt, so Kniefacz.
Am Puls der Zeit. Die Universitäten verändern sich derzeit rasanter als je zuvor: Blieb das Angebot an Studienfächern während der ersten 500 Jahre weitgehend unverändert, entwickeln sich mittlerweile laufend neue Fachgebiete, und auch die Brücken zwischen den Disziplinen werden wichtiger. Die Verbindung der Lebenswissenschaften mit der Mathematik und den Computerwissenschaften ist einer dieser Trends genauso wie die Entwicklung der „Digital Humanities“ – Geistes- und Kulturwissenschaften, die verstärkt mit computergestützten Verfahren und digitalen Ressourcen arbeiten. „Techniken und Medien, die sich neu entwickeln, muss man als WissenschafterIn beherrschen und alle Vorteile für sich in Anspruch nehmen, wenn man ausgezeichnet sein will“, ist die Blog-Autorin Marianne Klemun überzeugt. Ähnlich wie sich viele Gelehrte mit Aufkommen des Buchdrucks im 15. Jahrhundert dieser Technologie bedienten, um ihre Werke selbst zu drucken, nutzten WissenschafterInnen heute die vielfältigen Möglichkeiten des Internets, um Forschungsergebnisse öffentlich zu machen, so Klemun.
Geschichte online. Auch für Katharina Kniefacz ist die historische Forschung ohne die neuen Technologien nicht mehr denkbar. Die Zeithistorikerin betreut gemeinsam mit ihrem Kollegen Herbert Posch das Gedenkbuch der Uni Wien, eine Online-Datenbank, die heute rund 1.800 während der NS-Zeit vertriebene Studierende und über 200 Lehrende erfasst sowie rund 200 Personen, denen das Doktorat aberkannt wurde. Besonders erfüllend sei der Kontakt mit Angehörigen, die über die Datenbank teilweise erstmals Genaueres über die Verfolgungsgeschichte ihrer Eltern, Großeltern, Onkel oder Tanten erfuhren, erzählt die Historikerin. Darunter Studierende kurz vor dem Abschluss, die ihr Studium nach der Emigration in die USA noch einmal von vorne beginnen mussten – wenn sie dazu überhaupt die Möglichkeit hatten. Oder Lehrende, die als 60- oder 70-Jährige ihr gesamtes Leben zurücklassen und mit nur einem Koffer auswandern mussten.
Derzeit arbeiten Kniefacz und Posch mit dem Leiter des Universitätsarchivs, Thomas Maisel, auch an einer Online-Version der Uni-Geschichte. „Mit der Website wollen wir eine breite Öffentlichkeit ansprechen, die sich ohne viel Vorwissen über die Geschichte der Uni Wien informieren kann, aber auch Leitthemen vorgeschlagen bekommt.“ Daneben werden den NutzerInnen über eine Timeline und eine Karte, auf der neben den Uni-Orten auch WissenschafterInnen, die an der Uni Wien gelehrt haben, mit ihren Geburtsorten verzeichnet sind, verschiedene Zugänge angeboten.
Einen wesentlichen Vorteil haben die Online-Projekte jedenfalls: Sie sind als „work in progress“ konzipiert und können jederzeit erweitert und ergänzt werden. Ideale Bedingungen für ein Riesenthema wie die Geschichte der Universität Wien. Auf die neuen Medien setzt die Uni Wien aber nicht nur bei der Aufarbeitung ihrer Geschichte: Ob Blogs, Facebook, Twitter oder Instagram, sämtliche Aktivitäten im Jubiläumsjahr werden über die Social-Media-Kanäle begleitet. Gut möglich also, dass Sie auch online über diesen Hashtag stolpern: #uniwien! •