Zufall des Alltags
Aufgelesen. Die Alumna der Romanistik und Politikwissenschaft Hanna Silbermayr berichtet als freie Journalistin und Fotografin aus Lateinamerika. Ihre Geschichten findet sie manchmal auf der Straße.
Text: Hanna Silbermayr
Vor einem Jahr beschloss ich, mich endgültig und vollständig jenem Kontinent zu widmen, für den mein Herz schon lange schlägt: Lateinamerika. Reisen bedeutet für mich seit jeher, für längere Zeit an einem mir fremden Ort anzudocken. So lange, bis er mir nicht mehr ganz so unbekannt erscheint
und aus dem Reisen Alltag wird.
Bauchgefühl. Manchmal bestimmen Zufälle diesen Alltag. Als Journalistin bin ich darauf angewiesen, dass Menschen ihre - oft sehr persönlichen - Geschichten freiwillig mit mir teilen. Meistens muss ich mich für eine Reportage aktiv auf die Suche nach geeigneten *innen machen – ein Unterfangen, dass nicht immer ein Leichtes ist. Doch manchmal geht solch ein (Arbeits)leben in Argentinien, Brasilien oder Mexiko auch sonderbare Wege.
Meine Texte handeln meist von sozialpolitischen Themen. Ich schreibe über Dinge und Begebenheiten, die häufig nicht nur ein einzelnes, sondern viele Mitglieder einer Gesellschaft betreffen, das heißt gesamtgesellschaftlich relevant sind. Und so kommt es, dass ich manchmal geradezu über potentielle Protagonist*innen einer Reportage stolpere, ohne überhaupt nach ihnen gesucht zu haben. Denn: Die besten Geschichten findet man bekanntlich auf der Straße.
Eine solch wundersame Begegnung hatte ich vor einem Jahr mit Doña Rachel in Argentinien. Es ist Sonntag und ich schlendere samt Kamera durch die Straßen von Buenos Aires. Ich lasse mich treiben, achte nicht darauf, wohin ich mich bewege. Biege links ab, wenn mir danach ist oder gehe geradeaus weiter. Ich folge einfach meinem Bauchgefühl, als ich auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine alte Frau erblicke. Sie sitzt auf einem kleinen Mauervorsprung und hält eine Zeitung in der Hand. Schön sieht sie irgendwie aus, denke ich.
In meinem Kopf habe ich längst das Bild erschaffen, das ich von dieser Dame machen würde. Als ich mich nähere, lächelt sie. Aus den alten Augen strahlt das kleine Mädchen, das sie einmal gewesen war. Ich frage sie, ob ich sie fotografieren dürfte. Warum, will sie wissen. Weil ich sie schön fände, antworte ich. Sie lässt mich und erzählt mir, dass sie Witwe ist, ihr Mann vor ein paar Jahren gestorben ist. Sie spricht von ihrer staatlichen Pension, die nicht zum Leben reicht. Und von
einem Alltag, den sie am Straßenrand verbringt und um Geld bettelt.
Ungeplant. Diese Begegnung war nicht geplant und das Foto Ergebnis meines Faibles für interessante Menschen. Doch die Erzählungen der alten Frau ließen ihre persönliche Geschichte mit jener Argentiniens verschmelzen. Plötzlich wurden mir die Auswirkungen der zu dieser Zeit aktuellen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Spannungen klar. Doña Rachel hatte sie mir auf einfache Art und Weise erklärt und wurde so zur Protagonistin meiner Reportage darüber.