In the Streets of London. Bewegte Zeiten erlebt ORF-London-Korrespondentin Cornelia Primosch derzeit im Vereinigten Königreich. Für univie schildert die Alumna ihre persönlichen Eindrücke aus dem Pre-Brexit-Land.
Text: Cornelia Primosch
Steve Bray steht jeden Tag, bei Wind und Wetter, mit seinen EU-Fahnen und seinem europablauen Zylinder vor den Houses of Parliament in London. „Stop Brexit – It’s not too late“ ruft er aus voller Kehle den Abgeordneten zu. Er ist ein freundlicher Herr aus Wales, Ende 50, von Beruf Münzhändler, der sich mit seinen EU-Fahnen am liebsten kameragerecht hinter Fernsehreportern positioniert, die live über die aktuellen Streitereien um den Brexit berichten. Auf diese Weise habe auch ich Steve kennengelernt. Er ist einer der wenigen Briten, die ein wirkliches Opfer erbringen, um gegen die politischen Entwicklungen in seinem Land zu protestieren.
Ein besonders egagierter Brexit-Gegner: Steve Bray aus Wales.
Zwar sind mir seit Sommer 2017 viele seiner Landsleute begegnet, die gegen den EU-Austritt gestimmt haben, doch niemand hat deshalb seinen Job an den Nagel gehängt, wie es bei Steve Bray der Fall ist. Das Land ist zerstritten, die Einstellung zum Brexit trennt Familien, Freunde, Gemeinschaften. Dennoch respektiert letztendlich das unterlegene Lager den Ausgang des Brexit-Referendums. Schließlich war die EU-Mitgliedschaft der Briten nie eine Liebesbeziehung, sondern vielmehr eine Vernunftehe. Der EU-Gründungsgedanke des Friedensprojekts spielt auf der Insel keine nennenswerte Rolle, aktuelle EU-politische Debatten schaffen es – abgesehen vom Brexit – nie in die Schlagzeilen der britischen Medien. Das Interesse an Europa ist erstaunlich gering, was mir nach beinahe acht Jahren als EU-Korrespondentin in Brüssel mitunter nahegeht.
Dennoch erklären mir selbst proeuropäische Briten, dass die EU „reformiert“ werden müsse, ohne konkrete Ansatzpunkte nennen zu können. Die zunehmende europäische Integration, das Zusammenwachsen Europas, war nie im Sinne des offiziellen Großbritanniens. In Brüssel konnte ich das als Korrespondentin über die Jahre hinweg mehrfach beobachten. War endlich ein mühsamer europäischer Kompromiss geschmiedet, haben die Emissäre der britischen Regierung selbigen blockiert.
Cornelia Primosch ist derzeit im Großeinsatz. Seit August 2017 leitet die Alumna der Uni Wien das ORF-Büro in London.
Nach fast acht Jahren als EU-Korrespondentin in Brüssel gehen ihr das mangelnde Interesse der BritInnen an Europa
und der bevorstehende Brexit mitunter auch persönlich nahe.
Schwieriger Abschied. Ganz so einfach aber verläuft die Scheidung dieser Vernunftehe nicht. Zwar beherrscht kein anderes Thema die britische Politik so anhaltend wie der EU-Austritt. Doch aufgrund der diametralen Vorstellungen der unterschiedlichen Lager kristallisiert sich nur sehr langsam eine Vision des Brexit heraus.
Großbritannien dürfte britischer werden – immerhin betont die britische Regierung stets, dass sie die Kontrolle über die Grenzen und die Zuwanderung zurückerlangen will. Für die 3,8 Millionen EU-Bürger, die in Großbritannien leben, entsteht damit keine besonders einladende Atmosphäre. In den vergangenen Monaten haben mir viele Europäer in London erklärt, dass sie das Land nach vielen Jahren verlassen wollen oder dies bereits getan haben. Dabei machen gerade die unterschiedlichen Kulturen den Charme der britischen Städte, vor allem Londons, aus.
Die Briten entscheiden sich, wieder allein in der Welt zu bestehen, eine Abkehr von diesem Kurs ist derzeit nicht absehbar. Die Europäer, vor allem die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Staaten, sollten den Brexit als Chance verstehen, dem Gemeinschaftsprojekt EU wieder neue Energie zu verleihen, anstatt den nationalistischen, kleinstaatlichen Tendenzen nachzugeben, die schließlich dem Brexit den Weg geebnet haben. •
Mag. Cornelia Primosch, Alumna der Deutschen Philologie, ORF-Korrespondentin
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