PRO BONO. Österreich zählt zu den Vorreitern: Fast jede/r Zweite über 15 Jahre engagiert sich in der Freizeit ehrenamtlich. Was motiviert Menschen dazu, unbezahlt zu arbeiten? Wer profitiert von der Freiwilligentätigkeit, wo sind die Grenzen zu ziehen? Und: Welche Fragen künftige Freiwillige mit sich selbst klären sollten, bevor sie aktiv werden. Erklärungsansätze und Denkanstöße aus der Psychologie, aus der Verhaltensökonomie, aus der Politikwissenschaft und von engagierten Alumni.
Leseprobe aus dem Schwerpunkt:
Gern geschehen!
Text: Siegrun Herzog
Vorsichtig und hochkonzentriert hantieren die Frauen mit den Fundstücken, die sie auf einem weißen Blatt Papier vor sich auf dem Tisch anordnen und beschriften. Keramikscherben, Knochensplitter, Glasteile und Mörtelreste waren heute im Fundsackerl von Hermine Jira. Die 70-jährige Absolventin der Uni Wien kommt seit einem Dreivierteljahr regelmäßig in die Stadtarchäologie Wien, um mitzuhelfen. Geld bekommt sie dafür keines, doch darum geht es der Pensionistin auch gar nicht. „Mich interessiert sehr vieles, aber eigentlich fehlen mir die Menschen“, sagt die ehemalige Bankangestellte und Lehrerin. Seit ihrer Pensionierung vor sechs Jahren widmet sich Hermine Jira nur mehr Arbeiten, für die sie kein Geld bekommt. „Für Geld arbeite ich nicht mehr, es geht mir gut. Jetzt kann ich der Gesellschaft etwas zurückgeben“, sagt sie.
Freiwillige bei der Arbeit in der Stadtarchäologie Wien. Die Alumna der VWL und Wirtschaftspädagogik Hermine Jira hilft regelmäßig beim Aufnehmen von Fundmaterial.
Information als Grundwährung. So wie Hermine Jira kommen Woche für Woche zahlreiche Freiwillige, um ihre Arbeitskraft in den Dienst der Stadtarchäologie Wien zu stellen. Darunter Personen, die sich beruflich umorientieren möchten, Burn-out-Betroffene aus der Wirtschaft, die eine Auszeit suchen, Mütter in Karenz und in den Ferien auch Studierende. Doch großteils arbeiten PensionistInnen mit, unter ihnen überdurchschnittlich viele Frauen mit Universitätsabschluss. „An die 60 Freiwillige sind derzeit bei uns aktiv, wir brauchen diese Arbeitskraft“, betont die Archäologin Ingeborg Gaisbauer, die die Freiwilligen im Rahmen der „Initiative Seniorarchäologie“ betreut. Praktisch bei fast allen Bauvorhaben in Wien stößt man auf Funde vergangener Zeiten und diese heißt es aufzunehmen und für die weitere Bearbeitung vorzubereiten. Probleme bei der Nachbesetzung von Freiwilligen gebe es hier keine, ganz im Gegenteil. „Die Anfragen interessierter HelferInnen übersteigen unsere Kapazitäten“, freut sich Gaisbauer. Was sich über die Jahre allerdings geändert habe, seien die Motive der freiwilligen MitarbeiterInnen: Früher wollten sie einfach helfen, heute kommen die meisten aus persönlichem Interesse an der Sache. Damit seien auch ihre Ansprüche gestiegen, weiß die Koordinatorin. Was sie im Gegenzug anzubieten habe? Informationen, etwa über die Datierung der Stücke, über technologische und sozialhistorische Details. „Wir könnten die Arbeit ohne die freiwilligen HelferInnen nicht bewältigen, ich finde es daher nur fair, dass möglichst viel Wissen dafür gehandelt wird. Information ist für mich die Grundwährung in der Arbeit mit Freiwilligen“, sagt Gaisbauer, die selbst ein Ur- und Frühgeschichtestudium an der Uni Wien abgeschlossen hat.
Für Hermine Jira ist die Stadtarchäologie Wien nicht die erste Station in ihrer Freiwilligenkarriere. Die Pensionistin hat bereits in einem Jugendzentrum SchülerInnen bei den Hausaufgaben unterstützt und 2015/16 mit Geflüchteten Deutsch gelernt. Aktuell arbeitet sie auch bei der Museumsagentur Wien mit, die ehrenamtliche MitarbeiterInnen an Museen vermittelt, etwa für Recherchearbeiten oder zur BesucherInnenbetreuung. „Ich kriege jetzt mehr Anerkennung als im normalen Berufsleben, deutlich mehr“, betont Jira.
Win-Win. Dass sich Freiwillige keineswegs aus purem Altruismus engagieren, bestätigt Claus Lamm. Der Psychologe sieht vielmehr den Nutzen für beide Seiten als Voraussetzung dafür, dass das Engagement auch nachhaltig ist. Lamm erforscht an der Universität Wien die biologischen und neuronalen Grundlagen von menschlichem Sozialverhalten, wie Altruismus, Empathie und Mitgefühl. Reinen Altruismus, definiert als Handeln, von dem man selbst keinerlei Nutzen zieht, die andere Person aber sehr wohl, finde man unter Menschen kaum. „Wir sprechen hier lieber von prosozialem Verhalten, wo beide Seiten davon profitieren können, der Nutzen der anderen Person aber über meinen eigenen hinausgeht“, so Lamm. Die Frage „Was habe ich davon?“ werde allerdings meist nicht bewusst gestellt, oft sei es mehr ein diffuses „Fühlt sich gut an“. „Warm Glow“ nennt die Wissenschaft dieses angenehme Wohlgefühl, das uns nach einer guten Tat durchströmt.
„Die Empathie ermöglicht uns, die Gefühle anderer nachzuempfinden. Aus dieser Emotion heraus kann ein Mitgefühl entstehen, das uns dazu bringt, anderen zu helfen.“
Univ.-Prof. Claus Lamm, Kognitions- und Neuropsychologe, Universität Wien
Was Menschen zu prosozialem Verhalten motiviert, untersuchen Lamm und sein Team im Experimentallabor. ProbandInnen bekommen dort etwa die Möglichkeit, Geld zu spenden. Wenn der Beitrag auch für andere sichtbar ist, wird mehr gespendet, als wenn niemand es sieht. „Reputation kann ein starker Motivator für prosoziales Verhalten sein, hier stellt sich allerdings die Frage, wie lange diese Motivation aufrechtzuerhalten ist“, räumt Lamm ein. Wenn es darum geht, Geld für karitative Einrichtungen zu spenden oder diese in anderer Form zu unterstützen, spielt auch die Empathiefähigkeit eine große Rolle. „Die Empathie ermöglicht uns, die Gefühle anderer nachzuempfinden. Aus dieser Emotion heraus kann ein Mitgefühl entstehen, das uns dazu bringt, anderen zu helfen“, so Lamm.
Gesucht – gefunden! Ob Nachbarschaftshilfe oder Vereinsarbeit, in Österreich ist fast jede/r Zweite über 15 Jahre bereit,
sich für die Allgemeinheit einzusetzen.
Tragende Säule. Die Bereiche, in denen man sich freiwillig engagieren kann, sind vielfältig: Ob in Kultureinrichtungen, in der Altenpflege, in der Katastrophenhilfe, im Sport oder im Tierschutz, Freiwillige sind längst eine tragende Säule vieler Organisationen. Laut Freiwilligenbericht, der vom Sozialministerium herausgegeben wird, betätigen sich 46 Prozent der österreichischen Bevölkerung ab 15 Jahren freiwillig. Etwas mehr Männer als Frauen engagieren sich im formellen Bereich, in Vereinen und Organisationen, einen leichten Frauenüberhang gibt es in der Nachbarschaftshilfe. Vergleichsweise am aktivsten ist die Altersgruppe der 50- bis 59-Jährigen, mehr als die Hälfte von ihnen ist freiwillig tätig. Interessantes Detail: Je höher die Bildung, desto höher ist auch die Beteiligung – unter den HochschulabsolventInnen beträgt sie rund 60 Prozent. Am höchsten ist die Beteiligungsquote übrigens in Wien. Und im EU-Vergleich wird deutlich: Die ÖsterreicherInnen engagieren sich – gemeinsam mit den NiederländerInnen, SchwedInnen und BritInnen – überdurchschnittlich häufig freiwillig und liegen mit je über 40 Prozent im EU-Spitzenfeld.
„Rein volkswirtschaftlich gesehen ist klar, dass daraus eine riesengroße Wirtschaftsleistung entsteht“, sagt der Verhaltensökonom und Volkswirt Martin Kocher von der Universität Wien. Sie monetär zu bewerten sei aber schwierig, denn die Trennlinie, was schon Freizeit und Spaß und was tatsächlich als Arbeit einzustufen ist, sei bei der Freiwilligenarbeit schwer zu ziehen. Kocher sieht in der gut organisierten Struktur der Freiwilligenarbeit in Österreich eine Voraussetzung und vergleicht die Vereinsstruktur auf dem Land mit einer „gut geölten Maschine“. „Da gibt es die Freiwillige Feuerwehr, das Rote Kreuz, die Musikkapelle und den Trachtenverein, das läuft einfach, egal was sich rundherum vielleicht ändert.“ In den angloamerikanischen Ländern dagegen sei der gesamte Freiwilligenbereich, darunter auch das Fundraising, stark von Einzelpersonen abhängig, denen es mehr oder weniger gut gelinge, Menschen zu mobilisieren.
„Rein volkswirtschaftlich gesehen ist klar, dass aus der Freiwilligenarbeit eine riesengroße Wirtschaftsleistung entsteht.“
Univ.-Prof. Martin Kocher, Volkswirt, Universität Wien, Direktor IHS
Auch die Verhaltensökonomie beschäftigt sich mit der Frage, was Menschen dazu motiviert, etwas zu tun, was der Allgemeinheit nützt. Hier zeigt sich, dass viele dann bereit sind, etwas zum Wohl der Gemeinschaft beizutragen, wenn sie erfahren, dass andere dasselbe tun. „Aus Entscheidungsexperimenten wissen wir, dass 50 bis 60 Prozent der Leute sogenannte konditionale Kooperierer sind“, so Kocher. Und je mehr von ihnen wir in einer Gruppe haben, desto besser funktioniere die Kooperation insgesamt. Umgelegt auf Österreich, wo wir ein sehr gutes Netz an Freiwilligenarbeit vorfinden, führe das dazu, dass sich diese letztlich reproduziert, sagt Kocher.
Gemeinsam solidarisch. Für die Politikwissenschafterin Barbara Prainsack ist klar, dass die institutionellen Rahmenbedingungen einen Einfluss darauf haben, ob Menschen solidarisch handeln können oder nicht. „In Staaten wie Österreich, wo es ein stabiles soziales Auffangnetz gibt, wissen die Leute, dass sie nicht in den Privatbankrott schlittern, wenn sie plötzlich krank werden oder ihren Job verlieren sollten. Das macht es leichter, auch andere zu unterstützen.“ Prainsack hat an der Universität Wien vor kurzem die Forschungsgruppe „Zeitgenössische Solidaritätsstudien“ gegründet. Die beteiligten ForscherInnen wollen zur Entwicklung von Politikinhalten und Institutionen beitragen, welche die Bereitschaft von Menschen, andere zu unterstützen, in den Vordergrund stellen, und soziale Gerechtigkeit im Blick haben. Aus der Solidaritätsperspektive ist das Erkennen von Gemeinsamkeiten letztlich der zentrale Moment, der Menschen zum Handeln treibt. „Das kann ein gemeinsames Interesse genauso sein wie eine Bedrohung, die man als Gruppe gemeinsam spürt. Gemeinsam gegen den Klimawandel oder gemeinsam für mehr ArbeitnehmerInnenrechte“, so Prainsack. Ob es gelingt, Gemeinsamkeiten mit anderen zu identifizieren, hänge nicht zuletzt davon ab, wie seitens der Politik oder der Medien über bestimmte Gruppen gesprochen oder berichtet werde. „Was wir in Österreich beobachten, ist, dass die dominante politische Rhetorik immer mehr fragmentiert, einzelne Gruppen gegeneinander ausspielt.“ Das mache es den Menschen schwerer, Gemeinsamkeiten zu sehen, stellt Prainsack fest.
„In den Kernbereichen der Leistungserbringung sollten wir nicht auf Ehrenamt angewiesen sein, das ist etwas, was der Staat tun muss.“
Univ.-Prof. Barbara Prainsack, Politikwissenschafterin, Universität Wien
Dass sich so viele Menschen in Österreich freiwillig engagieren, sei grundsätzlich positiv zu bewerten, solle gleichzeitig aber nicht als Einladung dahingehend gelesen werden, dass der Staat sich zurückziehen kann. „Der Zugang zu lebens- und überlebenswichtigen Dienstleistungen muss ein Rechtsanspruch sein. In den Kernbereichen der Leistungserbringung, wie Gesundheit, Nahrung, Wohnen oder Bildung sollten wir nicht auf Ehrenamt angewiesen sein, das ist etwas, was der Staat tun muss“, mahnt die Sozialwissenschafterin.
Kein Selbstläufer. Freiwillige zur Mitarbeit zu gewinnen, sie gut in die Organisation einzubinden und – im Idealfall – über viele Jahre zu halten, das ist das tägliche Geschäft von Martin Oberbauer. Der Psychologie-Absolvent der Universität Wien ist Freiwilligenkoordinator beim Wiener Hilfswerk, das in seinen vielfältigen Angeboten, wie im Sozialmarkt, in der Flüchtlingshilfe oder in den Nachbarschaftszentren, auf die Unterstützung Ehrenamtlicher angewiesen ist. Und obwohl dort heute gut viermal mehr Freiwillige mitarbeiten als vor acht Jahren, als Oberbauers Stelle eingerichtet wurde, ist das Rekrutieren kein Selbstläufer. „Der Trend der letzten Jahre zeigt, dass man sich mit herkömmlichen Aufgabenprofilen, wie etwa dem klassischen Besuchsdienst, zunehmend schwertut, Freiwillige zu gewinnen.“ Speziellere Tätigkeiten, wie die als „Gesundheits-Buddy“, der gebrechliche Menschen zu Hause besucht, um mit ihnen gemeinsam zu trainieren, stoßen erfreulicherweise auf größeres Interesse.
„Freiwillige sollten wissen, dass sie auch selbst etwas zurückbekommen.“
Mag. Martin Oberbauer, Alumnus der Psychologie, Freiwilligenkoordinator, Wiener Hilfswerk
Oberbauer, der auch die Ehrenamtsbörse Wien organisiert – eine Agentur, die Freiwillige mit der jeweils passenden Organisation oder dem für sie geeigneten Projekt „matcht“ –, weiß: Ob Menschen länger dabei bleiben, hängt auch davon ab, ob sie das Gefühl vermittelt bekommen, gebraucht zu werden, ein Teil des Ganzen zu sein, und wie gut sie in die Organisation eingebunden sind. Wichtig sei es deshalb, ihnen mit der nötigen Wertschätzung zu begegnen, ihnen das Gefühl zu vermitteln, willkommen zu sein und etwas Sinnvolles zu leisten. „Ich muss es schaffen, dass sie gerne kommen“, ist Oberbauer überzeugt. Eigentlich gar nicht so anders als im normalen Berufsleben. •